J. Stürmann: Osteuropäisch – jüdisch – sozialistisch

Cover
Titel
Osteuropäisch – jüdisch – sozialistisch. Untersuchung einer vergessenen Berliner Exilgruppe der Weimarer Republik


Autor(en)
Stürmann, Jakob
Reihe
Europäisch-jüdische Studien – Beiträge
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 413 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Senior Fellow, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Von allen politischen Parteien des russischen Exils überlebte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (Menschewiki) nach 1917 am längsten: bis 1933 in Deutschland, dann bis 1940 in Frankreich und schließlich in den USA. Ihr organisatorisches Zentrum, die „Auslandsdelegation“, bestand in New York bis 1951. Die im Februar 1921 gegründete Parteizeitung „Sozialistitscheski Westnik“ (Sozialistischer Bote; SW) erschien dort bis zum Tod ihres letzten Herausgebers Rafail Abramowitsch im Jahr 1963. Die Gründe für diese bemerkenswerte Beharrungskraft lagen in der Solidargemeinschaft der Exil-Menschewiki und Angehöriger anderer sozialistischer Gruppen, die schon auf Erfahrungen revolutionären Kampfes aus der Zeit vor 1917 zurückgreifen konnten. Hinzu trat in vielen Fällen das Schicksal einer doppelten Diskriminierung: Nicht wenige von ihnen waren jüdischer Herkunft.

Um genau diese Gruppe russisch-jüdischer Exil-Sozialisten geht es in der an der Freien Universität Berlin entstandenen Dissertation von Jakob Stürmann, die nun als Buch vorliegt. Stürmann widmet sich der ersten Phase ihrer Tätigkeit in Berlin, indem er die Kollektivbiographie von 41 Männern und fünf Frauen der Geburtsjahrgänge 1850 bis 1903 rekonstruiert, die im Russischen Reich vor allem den Menschewiki, teils auch den Sozialrevolutionären, dem Jüdischen Arbeiterbund oder linkszionistischen Gruppen angehört hatten und ihre Arbeit als Marxisten im Exil fortsetzten.

Dass sich die linke Emigration in Berlin als „transnationalem Interaktionsraum“ (S. 360) konzentrierte, war kein Zufall. Die rechte russische Emigration schlug ihre Quartiere zunächst in Istanbul und Sofia und wenig später in München auf. In der bayerischen Landeshauptstadt sorgten baltendeutsche Emigranten wie Alfred Rosenberg und Eberhard von Scheubner-Richter dafür, dass die sich bildende NSDAP und nicht zuletzt Hitler selbst die Gleichung „Weltjudentum = Bolschewismus“ verinnerlichten. Der russische Adel suchte in Paris Fuß zu fassen, und ein nicht geringer Teil der emigrierten bürgerlichen Intelligenz fand in Prag sein Auskommen. Berlin aber war mehr als jede andere Metropole der „Hoffnungsort“ (ebd.) einer künftigen sozialistischen Revolution. Vor allem war die Stadt durch die starke SPD auch Knotenpunkt eines Netzwerkes von Hilfsorganisationen, das den von der bolschewistischen Regierung Verstoßenen einen, wenn auch begrenzten Rahmen zur Fortführung ihrer politischen Tätigkeit bot. Zudem beherrschten viele von ihnen Deutsch – zum Teil aus früheren Emigrationszeiten, zum Teil, weil ihre jiddische Muttersprache ihnen das Erlernen der deutschen Sprache erleichterte.

Zentralfigur des menschewistischen, überhaupt des linken Exils war zunächst Julius Martow. Unheilbar an Tuberkulose erkrankt, kam er im September 1920 nach Berlin. Dort schloss sich ihm der aus Russland ausgewiesene Fjodor Dan an, und beide gründeten den „SW“, als dessen langjähriger Chefredakteur Solomon Schwarz fungierte. Um die Zeitung herum bildete sich die Auslandsdelegation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (die Menschewiki, die anfangs noch ein Zentralkomitee in Sowjetrussland unterhielten, führten den alten Namen in Abgrenzung zu den Bolschewiki fort).

Martows Haltung bestimmte zunächst die Politik und Ideologie der Exil-Menschewiki, blieb aber parteiintern nicht unwidersprochen. Weit stärker als z. B. Pawel Axelrod und noch schärfer Pjotr Garwi sah Martow die Möglichkeit, dass die Bolschewiki die historischen Aufgaben der sozialistischen Revolution in Russland erfüllen würden, wie es die Jakobiner-Diktatur zu ihrer Zeit in Frankreich getan hatte. Keine Opposition gegen die Bolschewiki dürfe diese Prämisse je vergessen. Zu Martows Beerdigung im April 1923 reiste das sowjetische Staatsoberhaupt Alexej Rykow aus Moskau an. Noch bis 1931 standen die Exil-Menschewiki eher auf Seiten des bolschewistischen Regimes denn auf Seiten seiner Gegner. Überdies verbot die menschewistische Parteidisziplin die Mitarbeit an sowjetfeindlichen Exilpublikationen. Die Menschewiki legten keinen Wert auf Verbindungen zur rechten russischen Emigration, wobei auch der Antisemitismus eine Scheidelinie war. Der „SW“ und die jiddische Presse, für die zahlreiche Sozialisten schrieben, deckten ein ums andere Mal Pogrome der weißen Armeen im russischen Bürgerkrieg auf, die indes vom monarchistischen Exil begrüßt wurden (S. 249).

Zu einer ersten Zäsur wurde jedoch der Kronstädter Aufstand vom März 1921. Unter dem Vorwand, sie hätten den Aufstand organisiert, wurden fünftausend Menschewiki in Sowjetrussland verhaftet. Dies und die gleichzeitige Unterdrückung der menschewistischen Regierung in Georgien durch die Rote Armee sorgte in der deutschen Sozialdemokratie für eine Welle der Solidarität. Die SPD und ihre Organisationen schufen Arbeitsplätze für in Berlin lebende Sozialisten, besonders im Pressewesen. Die Menschewiki beteiligten sich sowohl an der Gründung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (1921) wie auch an deren Vereinigung mit der bisherigen Zweiten Internationale (1923). Seitdem wurde die Auslandsdelegation als offizielles russisches Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Internationale geführt. Dieser gehörten auch die Exil-Sozialrevolutionäre an, ebenso die marxistisch-zionistische Poale Zion und die armenische, georgische und ukrainische Sozialdemokratie im Exil. 1930 trat auch der Bund der SAI bei. Über Parteigrenzen hinweg organisierten der Bund und die Poale Zion das Arbeiter-Emigranten-Komitee zur Unterstützung geflüchteter Jüdinnen und Juden (S. 121). Stürmann listet weitere kaum bekannte Hilfsaktionen auf.

In Berlin wurden die Geflüchteten in die politische Kultur der SPD integriert. Alexander Stein (ursprünglich: Rubinstein) war zuerst Redakteur des USPD-Zentralorgans „Freiheit“ und wurde dann Chefredakteur der sozialdemokratischen „Bücherwarte“, die wissenschaftlich-publizistische Neuerscheinungen kommentierte. Die Menschewiki Rafail Abramowitsch, Grigorij Binstok (auch: Bienstock), David Dalin, Fjodor Dan, Juri Denike (Pseudonym: Georg Decker), Pjotr Garwi, Aaron Jugow, Alexander Schifrin (Pseudonym: Max Werner), Solomon Schwarz und Wladimir Woytinsky, der Bundist Paul Olberg und der Sozialrevolutionär Isaak Steinberg schrieben für die „Gesellschaft“, die Monatszeitschrift der SPD, den österreichischen „Kampf“ und für die sozialdemokratische Tagespresse. Denike war zeitweise zweiter Chefredakteur der „Gesellschaft“ neben Rudolf Hilferding. Auch als Übersetzer leisteten sie alle wichtige Arbeit. (Zu ihnen könnte noch der im Buch nicht genannte Arkadij Gurland, Jahrgang 1904, gerechnet werden, der in Russland noch keiner Partei angehört hatte, in Berlin aber zu diesem Kreis stieß.) Denike, Schifrin und Binstok erwarben das SPD-Parteibuch; die Doppelmitgliedschaft wurde von der Auslandsdelegation der Menschewiki begrüßt.

Der „Sozialistitscheski Westnik“ lebte bis 1924/25 von seinen guten Verbindungen in die Sowjetunion. Das Blatt berichtete regelmäßig, wenngleich natürlich anonym, über die dortige politische Lage, so z. B. über Nationalitätenkonflikte oder das Anwachsen des Antisemitismus. Inoffizielle Kanäle waren die russische Botschaft, die alsbald von jeder Nummer 700 Exemplare ankaufte – möglicherweise sogar auf direkten Rat Lenins. Boris Nikolajewski (der kein Jude war) erhielt über Jahre einen Forschungsauftrag des Marx-Engels-Instituts in Moskau, was dessen Leiter David Rjasanow 1938 unter Stalin das Leben kostete. Die Zusammenarbeit wurde dadurch erleichtert, dass einige Menschewiki ihren russischen Pass zunächst nicht abgaben und von der Botschaft sowjetische Ausweispapiere erhielten. Die Menschewikin Eva Broido arbeitete gar in der sowjetischen Handelsmission in Berlin. 1927 illegal für Kurierdienste in die Sowjetunion zurückgekehrt, wurde sie im folgenden Jahr inhaftiert, konnte jedoch noch das Manuskript ihres Romans aus dem Land schmuggeln, das Alexander Stein 1929 unter dem Titel „Wetterleuchten der Revolution“ in Berlin publizierte. Wahrscheinlich wurde Eva Broido 1941 in der Sowjetunion erschossen.

Die Konsolidierung von Stalins Herrschaft, deren sichtbarer Ausdruck der Prozess gegen 14 frühere Menschewiki 1931 in Moskau war, schlug auch für das sozialistische Exil ein neues Kapitel auf. Hatten die Menschewiki bis dahin darauf gehofft, früher oder später rehabilitiert zu werden, traten sie nun für eine „Überwindung des Bolschewismus“ ein (S. 128). Mit der Zerschlagung der Weimarer Republik wurde 1933 nicht nur die Arbeiterbewegung in Deutschland zerstört. Auch die Angehörigen der hier behandelten Gruppe wurden politisch und rassistisch verfolgt, mussten Deutschland verlassen und bemühten sich in Paris, ab 1940 in New York und im Falle Isaak Steinbergs schließlich in Australien um neues Asyl.

Stürmanns Buch fußt auf Quellen in deutscher, russischer und jiddischer Sprache und schildert detailreich eine heute fast vergessene Exilgemeinschaft. Sehr lesenswert ist die Wiedergabe ihrer Analysen zum Faschismus, insbesondere zum deutschen Nationalsozialismus, wie auch zum Antisemitismus. In der Bibliographie fehlen jedoch weitgehend die einschlägigen Publikationen des Hallensers Hartmut Peter.

Als störend empfindet der Rezensent die durchgehend „gegenderte“ Sprache der Studie, die den Lesefluss stark behindert und zum Teil sachlich unsinnig ist: So konnten weibliche „RotarmistInnen“ im russischen Bürgerkrieg keine Pogrome verüben (S. 74), da Frauen erst ab 1941 eingezogen wurden. Auch hatte der „SW“ unter seinen „HerausgeberInnen“ keine Frau (S. 154). Die Liste ließe sich fortsetzen. Besonders problematisch ist die Bemerkung Stürmanns über „NationalsozialistInnen“, die die fortlaufende „Liste des schändlichen und unerwünschten Schrifttums“ erstellten (S. 336). Doch gab es weder auf der Führungsebene noch in den unmittelbar nachgeordneten Körperschaften der verantwortlichen Reichsschrifttumskammer je eine einzige Frau. Hier werden Frauen faktenwidrig in Mithaftung genommen, womit sich das vom Verfasser verfochtene Prinzip einer „geschlechtersensiblen“ Sprache (S. VIII) in sein Gegenteil verkehrt.

Trotz dieser Kritik ist die Lektüre der Arbeit ausdrücklich zu empfehlen. Aufgrund ihres themenübergreifenden Untersuchungsgegenstands ist sie für Spezialisten der internationalen Arbeiterbewegung, der Exilforschung, der osteuropäisch-jüdischen Studien und der Sozialgeschichte der Weimarer Republik gleichermaßen von Nutzen.

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